Warum ich als Klimaaktivistin einen selbstbestimmten Philosophie-Studiengang aufbaue
Was sind die existentiellen Fragen des Heute? Wie kann ich diesen Fragen gerecht werden und gleichzeitig mir selbst geschützte Bildungsräume ermöglichen? Warum widme ich mich überhaupt philosophischen Fragen, während die Welt, wie ich sie kenne, droht zu zerfallen? Oder kann ich sogar Aktivismus akademisch studieren?
Wo finden die Fragen nach einer klimagerechten Welt und einem anderen menschlichen Miteinander heute in Schulen und Universitäten ihren Platz? Auf staubigen Schulbänken? In großen Hörsälen, die nur zu Semesterbeginn halbwegs gefüllt sind und die sich danach leeren? Nein. Bestimmt nicht in Vorlesungen, in denen die immer gleichen Folien abgelesen werden. Ich habe diese Fragen ganz woanders gefunden. Auf Demonstrationen und in vielen Gesprächen. Dennoch habe ich schnell bemerkt: Ich brauche ein richtiges Studium, wo ich mich selbstbestimmt diesen Fragen zu den Herausforderungen unserer Zeit widmen darf. Ich habe mich dabei wohl auf einen wahrhaften Drahtseilakt eingelassen: Auf der einen Seite steht das Heute, drängend. Ich bin geneigt, nur in diese Richtung zu blicken und das Gleichgewicht zu verlieren. Doch eigentlich brauche ich geschützte Bildungsräume, um mich als junger Mensch in einer immer schneller werdenden Welt – mit immer mehr Eindrücken und Forderungen an mich – zu entwickeln. Wie kann ich die Balance halten zwischen diesen beiden Seiten? Kann ich mich frei und ohne Bedrängnis als Mensch entwickeln, wenn die immer lauter werdenden Zeitfragen drohen, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen?
Weltverändern studieren
Ich wollte mich auf diesen Drahtseilakt einlassen. Deswegen suchte ich nach einem Studium, das mir einerseits Fähigkeitsbildung und geschützte Entwicklungsräume ermöglicht, und sich zugleich den Fragen der Welt zuwendet. Auf diesem Weg begegnete ich Jugendlichen, die sich entschlossen hatten, einen selbstbestimmten Bildungsweg zu gehen. Die Initiative „Selbstbestimmt Studieren“ ist nun dabei, einen Studiengang selbst aufzubauen, welcher sich den drängenden Zeitfragen widmet und zugleich einen Raum bietet, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten. Seit Oktober 2019 beschäftigen wir uns im Studiengang „Philosophie und Gesellschaftsgestaltung“ mit grundlegenden Fragen, die wir als junge Menschen haben. Dazu gehört die Frage nach dem Sinn unserer Existenz, nach Ethik und nach Selbstbestimmung. Immer wieder suchen wir im gemeinsamen Austausch den Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen vor dem Hintergrund der ökologischen und sozialen Krisen. Aufgrund meines „Involviert-Seins“ in der Klimagerechtigkeitsszene bringe ich und einige Mitstudierende die dort aufkommenden existenziellen Fragen mit in die Seminare. Dort haben wir in selbstbenannten Studienbereiche wie „Grundprobleme der Gegenwart“ den Spielraum, uns unseren Fragen zu widmen. Zur Verwirklichung des Projektes erfahren wir unter Anderem große Unterstützung durch Menschen der Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte, die uns auf unserem selbstbestimmten Bildungsweg begleiten.
Hinterfragen und Beobachten
Oft fragen mich Außenstehende, warum wir uns denn für die Philosophie entschieden hätten. Das würde doch überhaupt nicht unserem Anliegen an aktuelle Fragen und Herausforderungen entsprechen. Doch vielleicht braucht Bildung genau diesen Fokus auf mich selbst und meine Fähigkeiten. So kann ich mich in einem Schutzraum entwickeln und in Ruhe bilden. In praktischen Philosophie-Übungen wenden wir uns gleichzeitig uns und der Welt zu: Beim bewussten Wahrnehmen und Denken lernen wir uns und unsere individuellen Fähigkeiten überhaupt erst bewusster kennen. Zum Beispiel haben wir uns mit unserem Erinnerungsvermögen befasst. Dabei habe ich eine Kindheitserinnerung aufgeschrieben und währenddessen beobachtet, wie ich mich erinnere. So können wir unsere Verbindung mit der Welt reflektieren und uns einigen Grundproblemen der Gegenwart auf ganz andere Weise nähern als wir es normalerweise tun. Ich trete bei den Selbstreflexionsübungen einen Schritt zurück und lassen den Lärm der Welt stiller werden. Es entsteht ein Bildungsraum, in dem ich den Blick auf uns Menschen mit individuellen Fähigkeiten, und zugleich auf die Welt mit ihren vielfältigen Herausforderungen richte. In der Philosophie lernen wir, unser Verhältnis zu unserer Mit-Welt zu beobachten und zu hinterfragen.
Wenn wir uns mit der Geschichte befassen blicken wir in der Zeit zurück und können unsere heutige technisch-materialistisch orientierte Weltperspektive erweitern. Dabei lernen wir, uns in andere Weltbilder hineinzudenken und mit zu vollziehen, wie diese entstanden sind. Bei der Auseinandersetzung mit der Menschheitsgeschichte, und dem Bezug dieser zur eigenen Biografie können wir eine Außenperspektive auf aktuelle Themen gewinnen. Wir möchten möglichst viele Perspektiven miteinbeziehen, und über unseren heutigen Möglichkeitshorizont hinausdenken lernen. Friedrich Schiller personifiziert die Geschichte sogar. Er erklärt, sie spreche zum Individuum. Was hat das für eine Bedeutung, wenn ich mit der Geschichte sprechen lerne, wenn ich vielleicht erst einmal ihre Sprache lernen muss, um sie zu verstehen? Wenn wir mit der Geschichte im Rücken das Heute betrachten, können wir mit mehr Weitblick agieren und Erfahrungen aus der Menschheitsgeschichte miteinbeziehen.
Wir könnten dieses Vorgehen mit unserer eigenen Lebenserfahrung vergleichen. Wer würde denn auf all die wertvollen Erkenntnisse, Erfahrungen und Entwicklungsschritte des eigenen Lebens verzichten wollen? Wenn ich eine wichtige Entscheidung treffe, dann beziehe ich meine Biographie immer mit ein, ich kommuniziere mit meiner Geschichte und habe auf dieser Basis die Möglichkeit, durchdachte Handlungen einzuleiten. Auch als Gesellschaft brauchen wir den Blick in die Biographie der Menschheit, um die Zukunft ergreifen zu können. Und diese Biographie ist nicht nur die Geschichte des Handelns (ach so großartiger Männer), sondern auch die Geschichte des Denkens und Fühlens.
Der Drahtseilakt
Noch immer ist es eine Herausforderung, mich ganz auf meine Bildung zu konzentrieren. Das liegt daran, dass ich an die Dringlichkeit der Veränderung in unserer Welt denken muss. Durch meinen Aktivismus bin ich ständig konfrontiert mit Studien über die Zukunft unseres Planeten. Ich höre von Menschen, die unter den Folgen der zahlreichen Krisen existenziell leiden. Gleichzeitig lese ich von leeren Versprechen seitens der Politik. Die eigene Machtlosigkeit lässt mich in solchen Momenten verzweifeln. Der Druck lastet auf meinen Schultern und ich vergesse, dass ich nicht alleine die Welt retten werde und kann. Dennoch ist die Lage nicht hoffnungslos. Veränderung ist möglich und notwendig. Und durch einen selbstbestimmten Studiengang sind wir ein realer Teil dieser Veränderung und gestalten mit anderen Menschen eine gerechtere Welt.
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