ehem.
Studiengang
Philosophie und Gesellschaftsgestaltung

Wie kann Bildung im Hochschulkontext zukunftsfähig und selbstbestimmt sein?
Welche Fähigkeiten werden heute gebraucht?

Wir gingen als Junge Menschen auf unterschiedliche Bildungsakteur*innen, Professor*innen und NGOs zu.

Letztlich haben wir dann im September 2018 unsere Studiengangs-Initiative unter dem Motto „Selbstbestimmt Studieren“ ins Leben gerufen. Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fachrichtungen haben wir ein Konzept erarbeitet, die Finanzierung organisiert, die Frage nach einer universitären Anbindung diskutiert, Mitstudierende gesucht und einen Modulplan ausgearbeitet.

Da unser Konzept völlig neuartig ist, war klar: Wir mussten mit einem Pionierjahr beginnen, in dem wir neue selbstbestimmte Formate erprobten. So konnte das Konzept erprobt und der Studiengang gleichzeitig weiter aufgebaut werden, während wir diesen Studiengang schon studierten – zertifiziert auf Bachelor-Niveau über die Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte.

Im Mai und Juni 2019 wurden die ersten Infotage veranstaltet und junge Menschen aus ganz Deutschland kamen nach Stuttgart. Es folgten weitere Infoveranstaltungen. Bis September 2019 hatten sich 15 Studierende eingeschrieben und sich dazu entschieden, gemeinsam einen Bildungsweg zu gehen, der entsteht, indem er gegangen wird. Im Oktober wurde gemeinsam die Ersti-Woche und das erste Seminar gestaltet. Es ging los, Richtung Neuland!

Im Dezember 2021 waren aus dem Pilotjahrgang ganze drei Jahrgänge geworden. Doch wie kamen wir dahin?

Der Jahrgang 2019 war losgeflogen und nach einem ersten Studienjahr, das geprägt war von vielen Ortswechseln und dem Kennenlernen verschiedener Seminarorte, landete er im Sommer 2020 im Zukunftsdorf Sonnerden in der wunderschönen Rhön. An einem festen Ort anzukommen und dort schließlich auch den Bildungsbau, unser Seminarhaus, zu beziehen, hat viel mit uns und unserem Projekt gemacht. Wir richtetenn uns in Zimmern ein, hatten einen großen Gemeinschaftsraum, Vorräte in der Küche und konnten uns ein Zuhause für die Bildung bauen.

Dort durfte der neue Jahrgang 2020 starten und obwohl das Jahr turbulent war und Corona immer wieder unsere Pläne umwarf, wuchs und stabilisierte sich unsere Initiative: Gespräche mit Hochschulen wurden geführt, in Arbeitsgruppen fand die Selbstorganisation statt, wir luden Dozierende ein, machten Seminare und feilten am Modulplan. Außerdem führten wir im Frühjahr 2021 eine Vollversammlung zu Beginn jedes Semesters ein. Dort wurden vor allem die Seminare, das Herzstück unseres Studiengangs, für das folgende Semester diskutiert und geplant.

Im Oktober 2021 durften wir dann einen neuen Jahrgang begrüßen und unterhielten nun einen vollständigen Studiengang mit drei Jahrgängen und etwa 30 wundervollen Studierenden. Über das Jahr hat sich gezeigt, dass der Akkreditierungs-Prozess sich aufwändiger gestaltete, als was wir tragen konnten. Mit dieser Erkenntnis hat sich auch der Studiengang in seiner damaligen Form aufgelöst. Nach einem wunderschönen gemeinsamen Abschlussseminar sind wir unsere Wege alleine oder in kleinen Gruppen weiter gegangen.

… selbstbestimmte Bildung?

„Bildung ist ein essenzieller Bestandteil von menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Mit einer selbstbestimmten Bildung entwickeln wir neue Möglichkeiten, unser Studium selbstständig mitzugestalten, und uns aktiv und initiativ unseren Bildungsweg zu eigen zu machen. Dies fordert auch methodisch-didaktische Formate der gemeinsamen Gestaltung von Bildungsprozessen. In dieser Zeit stellt sich die Frage, wie wir als Menschen lernen können, uns selbst und damit die Welt selbstbestimmt und verantwortlich neu zu ergreifen, und welche Bildungsformen dafür nötig sind.“

– Fedelma Wiebelitz (Organisationskernteam)

… Philosophie heute?

„Hannah Arendt beschreibt nach dem Ende des 2. Weltkrieges das Gespräch mit dem „inneren Freund“ als ein Bild für das menschliche Gewissen. Sie spricht diesem inneren Gespräch dasjenige zu, was den Menschen zum Menschen macht und zeigt auf, wie der Verlust dieses Gespräches ein Einfallstor für das „radikal Böse“ ist.

In begrifflicher und gedanklicher Redlichkeit erforscht Immanuel Kant sein eigenes Erkennen und stellt damit vor dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften ein gewissenhaftes Ideal voraussetzungsloser Wissenschaft auf, die den Menschen in seiner Rolle als Erkennenden in ein Selbstverhältnis und zugleich ein Verhältnis zur Wahrheit bringt, das in Zeiten von fake news ein heilsamer Spiegel sein kann.

Warum viele Menschen gemeinsam mehr erkennen, als ein Einzelner und warum sie miteinander sprechen, sich von ihren Standpunkten erzählen, den Mut haben sollen, ihren eigenen Standpunkt aufzugeben und zugleich ein gemeinsames Ziel fest im Blick halten müssen, dafür gibt Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert ein ebenso eindrückliches wie sprechendes Bild in seiner Schrift De visione Dei.

Die trauernde Natur begegnet Alanus ab Insulis im 12. Jahrhundert und zeigt ihm ihr wunderbares, reiches Gewand, auf dem die herrliche Vielfalt der Schöpfung zu sehen ist. Alle Pflanzen, alle Tiere erscheinen dort. Das Haupt der Natura ragt bis in das Firmament hinein und auf ihrer Krone erscheinen die Planeten und Fixsterne. Nur an der Stelle im Gewand, wo der Mensch erscheint, verläuft ein tiefer Riss. Deshalb trauert die Natur und hofft darauf, dass der Mensch aus eigener Kraft diesen Riss wieder zu heilen in der Lage ist.

Der Aufruf „Erkenne dich selbst“, der über dem Eingang des Apollon-Tempels in Delphi prangte, und seither unzählige Persönlichkeiten durch alle Jahrhunderte auf je neue und je eigene Art und Weise angesprochen hat, ist der rote Faden, der uns auch heute mit all diesen Jahrhunderten verbindet. Die Beschäftigung mit der Philosophie macht dies erlebbar und ermöglicht Freundschaften über Raum und Zeit hinweg.

Wenn wir den Reichtum dieser Geistesgeschichte kennen lernen und mit ihm in ein Gespräch treten, das sich jenseits von Geschichtsvergessenheit einerseits, und bloßer Reproduktion von Wissen andererseits verortet, dann kann uns die Verantwortung aufgehen, die wir gegenüber dieser Geschichte tragen.

Zugleich verstehen wir, wie das Denken und Handeln der Menschen sich über die Jahrhunderte gewandelt hat. Indem wir uns in die Denkformen unterschiedlicher Jahrhunderte vertiefen, werden wir beweglich in unserem eigenen Denken. Die Beschränktheit der eigenen Sichtweise wird deutlich und ein immenser Horizont offener Möglichkeiten breitet sich vor uns auf.

Verbundenheit mit der Geschichte einerseits und Offenheit der Zukunft andererseits ermöglicht ein verantwortetes Einstehen in der Gegenwart. Die Beschäftigung mit der Philosophie führt in Zeiten der allgemeinen Entwurzelung – sei sie kulturell, biographisch, geographisch – zu einer Bewegung der inneren Verwurzelung. Hier wird ein fester Punkt gefunden, von dem aus wir uns selbst gut gegründet in das Zeitgeschehen stellen und verantwortlich aus Erkenntnis handeln können. So wahr der Ausspruch von Platon auch noch heute ist, Philosophieren hieße sterben lernen, so sehr folgt daraus vor allem auch der Satz: Philosophieren heißt leben lernen!“

– Johanna Hueck (Organisationskernteam)

… Gesellschaftsgestaltung?

„Wenn ich heute als junger Mensch in die Welt schaue, dann erblicke ich große Herausforderungen, vor denen wir als Gemeinschaft stehen. Dazu gehört die voranschreitende Digitalisierung, die Klimakatastrophe, atomare Bedrohungen, die Globalisierung und humanitäre sowie ökologische Krisen. Hier stellt sich die Frage: Welche Fähigkeiten brauchen wir, um eine solche Welt aktiv zu gestalten? Denn eines ist klar: Wir müssen die Welt verändern, wenn wir eine Zukunft auf diesem Planeten erleben wollen.

In unserem Studiengang erarbeiten wir uns Fähigkeiten, mit denen wir Teil des Wandels in der Welt sein können. Wir lernen, selbstbestimmt, reflektiert und in Freiheit unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Ein wichtiger Bestandteil für uns als Studierende ist es, die elementaren Fragen unserer Zeit zu stellen, und ein Verständnis für die aktuellen Herausforderungen zu entwickeln. In einer intensiven Auseinandersetzung mit den Komplexitäten des Anthropozän lernen wir unsere Handlungsspielräume kennen, und beginnen, den Pfad des Weltveränderns selbstständig und verantwortungsvoll zu gehen.“

– Charlotte von Bonin (Organisationskernteam)

Seminare

Zu Beginn jedes Semesters gab es eine Vollversammlung, in der u.A. Themenvorschläge für die Seminare im kommenden Semester gemacht wurden. Ein Arbeitskreis hat diese dann in konkrete Seminare zusammengefasst und sich darum gekümmert, dass diese stattfinden können. Das hieß z.B. passende Menschen finden und anfragen, ob sie für uns Dozieren wollen.

Die Seminare entstanden dann im Dialog mit den Dozierenden und es gab die Möglichkeit, im Vorhinein eigene Fragen an das Thema zu formulieren, welche von den Dozierenden in die Vorbereitung aufgenommen wurden. Uns war es wichtig, ein Verhältnis auf Augenhöhe zwischen Dozierenden und Studierenden zu leben, welches das gemeinsame Unterwegssein anerkennt und stärkt. Wir haben auf die langjährige Erfahrung und Fachkompetenz der Lehrenden und das Interesse der Studierenden, aktiv die Seminare mitzugestalten, gebaut.

Praxisbezug

Durch die Selbstorganisation des Studiengangs waren alle Studierenden in verschiedenen Arbeitsgruppen tätig und sammelten dort Praxiserfahrung. So gab es verschiedenste Bereiche von Buchhaltung bis Pressearbeit, in denen Fähigkeiten wie Eigenständigkeit und Verantwortung erlernt wurden. Viele Studierende waren außerdem in weiteren Projekten und Initiativen engagiert, die in den Gesellschaftsgestaltungsbereich des Studiums integriert werden konnten. 

Wir haben unser Studium deshalb auch als Experimentierfeld gesehen, in dem innovative Lern- und Lehr-Formate entwickelt und erprobt werden konnten, wie z.B. die folgenden:

Lernreise

Eine Reise oder ein Praktikum an einem Ort. Es ging dabei darum, einen Einblick in einen konkreten Bereich zu erhalten. Dabei sollten eigene Forschungsfragen mitgenommen werden.

Neulandprojekt

Ein Projekt, das die Studierenden aus ihrer Komfortzone bringen sollte und etwas ist, wovor sie Angst/ Respekt haben. Es sollte ihren Horizont erweitern, und sie fördern, ihre Grenzen/Fähigkeiten neu zu definieren. Es war ein temporäres Projekt über einige Wochen.              

Freie Lektüre

Ziel des Moduls war es, ein Thema, das einen interessiert, durch eine intensive Lektürephase zu vertiefen. Dabei ging es auch darum, die Lesefähigkeit von komplexen und vielschichtigen Primärtexten weiter zu üben und eine breitere Kenntnis von Sekundärliteratur zu erlangen. Die Leseergebnisse wurden schriftlich festgehalten und am Ende in der Gruppe vorgestellt.

Der Studiengang ist entstanden aus dem starken Bedürfnis aller Beteiligten, Bildung neu zu denken und neue Wege in der Bildung zu gehen – um später auch anderswo neue Wege gehen zu können.

Nachdem dieses Experiment zu Ende ging, tun manche von uns genau das: Mit dem, was sie gelernt haben, gehen sie anderswo ihren Weg weiter.
Andere von uns bleiben noch bei der Bildung und gehen weiter den ursprünglichen Fragen dieses Versuchs nach.

Die Reise ist also noch nicht vorbei…

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